Ich gebe ganz ehrlich zu, dass ich nicht zu denen gehöre, die 50 Schreibratgeber zu Hause hat und versucht, sich daran zu halten. Der einzige Schreibratgeber, den ich bisher gelesen und mir zu Herzen genommen habe, war „Elements of Style“. Das ist ein uraltes Buch, das hauptsächlich für den akademischen Bereich geschrieben wurde und solche Tipps enthält wie (sinngemäß) „verwenden Sie für jeden eigenen Gedanken einen eigenen Absatz“ (woraus ich für mich etliche Absatzregeln abgeleitet habe, mit denen ich wunderbar arbeiten kann und die mich noch nie enttäuscht haben).
Nun gibt es im Web jedoch zahlreiche Webseiten, auf denen Schreibtipps gegeben werden, wie man „garantiert einen Bestseller schreibt“ (in meinen Augen ein völlig falscher Ansatz, da hier das Schreiben zum besseren Geldverdienen hin optimiert werden soll und das geht am eigentlichen Zweck des literarischen Schreibens vorbei…). So gut wie alle davon prädigen ausdrücklich: Ein Roman darf nicht mit der Beschreibung des Wetters beginnen.
Was sind die Argumente gegen einen Einstieg mit dem Wetter?
Das häufigste Argument lautet, dass solche Anfänge schlicht ausgelutscht sind. Schlägt man der Reihe nach beliebige Bücher im Regal auf, findet man diesen Beginn einfach sehr oft vor. Dramatische Geschichten oder klassische Horrorromane beginnen oft mit einem Gewitter und besonders in der Romantik diente das Wetter als Spiegel der Stimmung des Protagonisten – und war somit eine beliebte Einleitung.
Außerdem wird behauptet, dass jeder in der Lage ist, mit sowas „Billigem“ wie dem Wetter anzufangen. Es gehöre also keine besondere Kreativität damit, ausgerechnet mit „Die Sonne schien und die Blumen blühten, als das Rotkäppchen in den Wald ging“ anzufangen.
Vor allem aber wird oft damit argumentiert, dass das Wetter in der Regel als billige Stimmungserzeugung verwendet wird, jedoch meist in solchen Fällen nicht zur eigentlichen Handlung beiträgt, also nur „schmückendes Beiwerk“ und somit „überflüssig“ ist. Es trägt nichts zur Handlung bei.
Der Einstieg per Wetter steht einfach im Ruf, nichtssagend zu sein.
Muss das so stimmen?
Mit dem Wetter einzusteigen, dient so gut wie nie dazu, einfach platt das Wetter zu beschreiben, es hat in der Regel einen Zweck. Entweder ist das Wetter Ausgangspunkt für die Handlung oder dient zur atmosphärischen Färbung.
Mir fällt auf Anhieb eine Geschichte ein, für die das Wetter tatsächlich eine wichtige Rolle spielt – das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse. Eine moderne Version davon kann die Handlung durchaus von hinten aufrollen und mit dem Gewitter beginnen, das dazu führt, dass die Prinzessin pitschnass und unansehnlich vor dem Schloss des Prinzen landet.
Hätte an diesem Tag die Sonne munter vor sich hingeschienen, wäre das Fahrzeug der Prinzessin nicht liegengeblieben und die Geschichte hätte nie ihren Lauf genommen.
Auch in anderen Fällen kann es für den Fortgang der Geschichte essentiell sein, wie das Wetter zu Beginn der Geschichte ist. In einer mondlosen Nacht kann man sich an den Sternen orientieren – schreibt jedoch ein Autor, dass der Vollmond die Wüste taghell erleuchtet und erwähnt dann Sternenbilder, die bei Mondschein nicht am Himmel zu sehen sind (weil der Mondschein so hell ist, dass schwächer strahlende Himmelskörper nicht zu sehen sind – ja, Bloggerin = Wissenschaftsfreak und in solchen Sachen penibel…), ist das unglaubwürdig. Entweder eine klare Nacht mit Mondschein oder mit Sternenlicht. Und bei Nebel kann man sich in der Wüste gar nicht mehr orientieren, kann jedoch das wertvolle Wasser mit einer Plane auffangen…
Ich selbst nutze Einstiege mit dem Wetter immer genau dann, wenn das Wetter sich in irgendeiner Weise auf meine Protagonisten auswirkt und zwar, wie mir auffällt, vorrangig um eine gewisse Trägheit und Lähmung auszudrücken:
Auch wenn in meiner Magiergeschichte der erste Satz sich nicht mit dem Wetter sondern mit dem Protagonisten beschäftigt, ist das Grundmotiv der Anfangsszene „Es ist heiß, die zwei Teenies gammeln im Schatten und trinken gekühlten Saft und ihnen ist langweilig“. Der Zweck ist klar, die Sonne macht müde und träge, die Teenies sehnen sich nach Ablenkung – die dann tatsächlich eintrifft.
Der erste Absatz in meinem [U]-Projekt lautet „Der Wind ruhte träge in der Mittagsglut des Tals nahe dem Tempelberg. Selbst die kleinen Kakteen schienen müde und staubgebadet wie alles andere in Q., einer Siedlung mitten im Nichts.“ (Hier gepostet, da es mehr als auf der Kippe steht, ob der Einstieg so stehenbleiben kann – aber nicht aus „Mit dem Wetter beginnen ist blöd“-Gründen, sondern weil ein auktorialer Einstieg in einer personell geprägten Geschichte das Blödeste ist, was man machen kann… Außerdem ist das noch der Ur-Einstieg von 2009…).
Was wollte ich mit diesem Absatz zeigen? Zum Einen wurde auf diese Weise der Ort eingeführt. Der Beginn der Geschichte spielt in Q. und Q. liegt mitten in der Wüste. Idealerweise hat der Leser jetzt eine orientalische Siedlung vor Augen, zur Mittagszeit, mit einem Tempelberg in der Mitte und keiner Menschenseele draußen.
Für die folgende Geschichte ist es sehr wichtig, dass Mittagszeit – die Zeit der größten Hitze – ist und niemand unterwegs ist, denn das ermöglicht einige Begegnungen, die abends nicht auf diese Weise ablaufen könnten.
Ich will damit allerdings nicht sagen, dass alle meine Wettereinstiege nötig oder gar gut wären. Bei meiner Recherche für diesen Blogpost habe ich einige meiner in diese Richtung gehenden Einstiege noch mal gelesen und fand einige grausig oder tatsächlich völlig unnötig oder zumindest stark kürzenswert.
Aufpassen bei historischen oder mit Daten arbeitenden Romanen!
Wenn man seinen Roman im dreizehnten Jahrhundert beginnen will und dann unbedingt über einen sehr strengen Winter in Frankreich schreiben möchte – egal ob dieser den Einstieg bildet oder nicht – sollte man recherchieren, ob ein solcher überhaupt möglich wäre. Googelt man beispielsweise grob nach europäischer Klimageschichte, stellt man fest, dass die Periode zwischen 800 und 1200 auch als mittelalterliche Warmzeit bezeichnet wurde und ein besonders strenger Winter gerade in dieser Periode völlig unsinnig wäre.
Ein Jahrhundert später jedoch wäre ein solcher völlig plausibel und sogar wahrscheinlich und zwei Jahrhunderte später während der kleinen Eiszeit fast schon obligatorisch.
Ein weiterer Aspekt – für den ich allerdings schon mal als Spinnerin bezeichnet wurde – ist, dass ich nicht einfach behaupten kann, am 31. August 2010 hätte es in Versailles ein Gewitter gegeben (das für die Handlung essentiell ist). Schließlich könnte ich irgendwann Leser in Frankreich haben, die mir dann erboste Mails schreiben könnten, sie wären an dem Tag auf einer Hochzeit gewesen und kein Regentropfen sei gefallen.
Für Frankreich gibt es tatsächlich eine Webseite, die für jeden größeren Ort das Wetter an einem beliebigen Tag und um eine beliebige Zeit anzeigt. Und das in einem riesigen Zeitraum. Dort konnte ich nachschauen, wann im Spätsommer oder Frühherbst es ein nächtliches Gewitter in Versailles gab – schon war das Romankapitel datiert.
Wie ist das bei euch? Fallen euch Bücher ein, die mit dem Wetter einsteigen? Steigt ihr selbst gern mit dem Wetter ein? Wo liegt eure Position im Wetterstreit?
Ich halte auch nichts von diesen ganzen Pseudoregeln und ich wähle immer den Anfang, der mMn für die Geschichte sinnvoll ist. Wenn dabei das Wetter eine Rolle spielt oder jemand gerade aufwacht, dann ist das eben so. Wichtig ist doch, dass man eines schafft: Den Leser in die Geschichte zu ziehen. :)
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So ist es!
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Spannendes Thema – ich habe mich immer streng an die Regel gehalten, dass man nie mit dem Wetter anfangen sollte. So à la der erste Satz ist ausschlaggebend und muss dich deshalb bereits in die Handlung reinwerfen. Da arbeite ich am liebsten mit Aussagen oder Dialogen, die dazu provozieren weiter zu lesen und zu erfahren, warum das jetzt so und so ist.
Aber jetzt wo ich darüber nachdenke, hast du recht. Dein Wüste-Mittagszeit-Satz ist ein perfektes Beispiel dafür. Ein Satz und man weiss schon wo und wann man ist und hat sogar das Grundgefühl für die Story mitgeliefert bekommen.
Und bei Geschichten, die sogar vom Wetter abhängig sind sowieso. Muss zugeben, wenn jemand im Buch seitenlang die Landschaft oder wasweissich beschreibt, überspringe ich diese Stellen. Finde ich nur in seltenen Fällen wie zB. Herr der Ringe (und auch das nur in der englischen Fassung) faszinierend.
Aber ich werde auf jeden Fall noch eine Zeit damit verbringen über das Thema nachzudenken. Ist eigentlich typisch – die grosse Frage des ersten Satzes. Bzw. der ersten drei, vier, fünf Sätze.
Genau deshalb mag ich deine Artikel – sie sind immer informativ. Und man hat echt was davon.
Und was den Fragen-Award angeht: Danke :) Und wenn du schmunzeln musstest – umso mehr danke! Es würde mich wahnsinnig freuen, wenn du sie beantworten würdest. Egal wo. Wie du magst!
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Ich habe mal festgestellt, bei einer Twitterdiskussion, dass es zwei Sorten Autoren gibt:
– diejenigen, die mit Anfängen Probleme haben
– diejenigen, die mit dem Schluss Probleme haben
Tendentiell gehöre ich mehr zur zweiten Fraktion, weshalb es für mich nie ein Problem war, sofort mitten in der Geschichte zu starten oder mir einen Anfang aus dem Ärmel zu schütteln. Es gibt 50000 Anfänge in meinem Archiv, zu denen nie eine Geschichte geschrieben wurde.
Außer ich hatte sowas wie bei meinem Wettersatz im Sinn, quasi das ganze Setting mit einem Satz zu umreißen – da musste ich einen Tick genauer nachdenken.
Wobei man natürlich zwischen Romananfängen und Anfängen für Kurzgeschichten unterscheiden muss. Ein Romananfang kann es sich leisten, notfalls ein wenig auszuholen. Bei einem Drabble zählt jedes Wort.
Deswegen schreibe ich so gern solche Artikel, wenn sie mir einfallen – es gibt immer diese Schlagmichtot-Regeln, die man beigebracht bekommt und anzuwenden probiert, ohne zu hinterfragen. Aber wenn man mal darüber nachdenkt, kommen tolle Sachen raus…
Ich versuche, im Laufe der Woche zu den Fragen zu kommen :)
Danke für den Kommentar und vor allem für die Blumen :D
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Ich glaube, der wichtige Punkt ist, dass man sich bewusst macht, dass der Anfang einer Geschichte eine Funktion erfüllt. Wenn ein Anfang zur Geschichte passt, der alle Regeln für erste Sätze bricht, dann ist dagegen – finde ich – nichts einzuweden. Man wird es meistens dem Text recht schnell anmerken, ob der Autor einfach nur mit dem Wetter anfängt, weil er nicht weiß, wie er sonst beginnen soll, oder ob da eine tiefere Absicht hinter steckt. Und wenn letzteres, dann werden die Leser es zu schätzen wissen, dass man nicht einfach die Regeln genommen und angewendet hat, sondern die Sprache gezielt einsetzt. Ich denke, letztlich macht es einen guten Autor aus, zu wissen, wann man Schreibregeln brechen sollte und wann nicht.
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Stimmt – das Problem ist, dass viele Autoren den Anfang nutzen, um sich erstmal irgendwie warmzuschreiben und irgendwas geschrieben zu haben, damit sie weiterarbeiten können.
Bei der ersten Fassung von etwas ist das auch kein Problem bzw. völlig egal, aber spätestens bei der ersten Überarbeitung sollte man den Anfang, den man rein zum Warmwerden geschrieben hat, größtenteils killen.
Denn ja, auch Anfänge haben eine Funktion und sollten bewusst gewählt werden. Wenn das Wetter eine Rolle spielt, wird man das merken und dem Autor nicht ankreiden.
Es heißt ja auch, man soll auf keinen Fall einen Roman mit der Beschreibung der Hauptperson beginnen – aber Anne Rice tut genau das seit ungefähr dreißig Jahren in ihren dennoch sehr erfolgreichen Romanen :).
Du hast Recht, dass ein guter Autor weiß, wann man Regeln brechen kann – denn ein guter Autor kann durchschauen, weshalb sie mal aufgestellt wurden und weiß, ob sie auf seinen Spezialfall überhaupt anwendbar sind :)
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Ich mag diese Totschlagphrasen „Du darfst das nicht, du darfst dies nicht, weils Wichtiger-Typ-mit-viel-Erfahrung XY in seinem maßgebenden Werk ABC so sagt!“ überhaupt nicht. Wenn das Wetter sich eignet, um Atmosphäre zu schaffen, dann fang ich halt mit dem Wetter an.
Muss ja nicht immer Medias in Res sein – manchmal kann man sich auch von der Umgebung her an den Protagonisten rantasten. Muss halt für die jeweilige Situation passen.
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Die Totschlagphrasen mag ich auch nicht – was mir aufgefallen ist: Viele Anfänger hören so eine Phrase und versuchen auf Biegen und Brechen, das umzusetzen. Und scheitern dann glorios, verlieren außerdem jeden Spaß am Schreiben.
Aber ja, wenn es für die Situation passt, kann man eigentlich alles tun.
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