Erneut leihe ich meinen Blog dem talentierten fruehstuecksflocke – heute schreibt er über seinen Selbstversuch mit Genderbend. Wie verändert sich eine Geschichte, wenn man alle Geschlechterrollen umkehrt? Ist es wirklich so einfach, wie die Feinde von „Twilight“ behaupten?
Twilight sorgt im Netz wieder für Furore. Zum zehnjährigen Jubiläum des ersten Bandes hat Autorin Stephenie Meyer ein neues Buch herausgebracht. Der Inhalt ist so alt wie neu: Teenager Beau ist neu in der Stadt, Vampirin Edythe beobachtet ihn aus dem Wald.
Kommt nicht nur bekannt vor, ist es auch. Meyer erzählt Twilight erneut, dieses Mal mit vertauschten Geschlechtern. Aus Bella wird ein Junge, aus Edward ein Mädchen.
Im Netz häufen sich bereits die Vorwürfe: Meyer sei einfallslos, wolle nur Geld machen, verkaufe mit billigen Tricks denselben Text als neu, man könne das mit der „Suchen und Ersetzen“-Funktion des Schreibprogramms ja selbst in 5 Minuten hinkriegen usw. usf.
Fraglich ist: Wie viel ändert sich an einer (Liebes-)Geschichte, wenn die Geschlechter der Protagonisten vertauscht werden? Lässt sich das wirklich problemlos bewerkstelligen?
Ich habe den Selbstversuch gemacht und einen fast zwei Jahre alten Text von mir ausgegraben. In „Zu ihm?“ geht es um den aus einem abendlichen Flirt resultierenden One-Night-Stand der Protagonistin Laura mit einem Kerl. Diesen Text habe ich nun umgearbeitet zum One-Night-Stand des neuen Protagonisten Lorenz mit einem Mädel. Der Titel: „Zu ihr?“
Für einen Klischeefetischisten wie mich kein leichtes Unterfangen.
Bevor ich nun meine Erfahrungen mit dem Geschlechterwechsel schildere, möchte ich geneigten Leserinnen und Lesern aber empfehlen, die Texte selbst zu lesen, um sich ein Bild von der Sache zu machen. Vielleicht wäre es sogar eine gute Idee, die Texte in neuen Tabs aufmachen und geöffnet lassen, um vergleichen zu können.
Fertig? Los geht’s!
Der Anfang und die Atmosphäre
Am Anfang gab es für mich hier eigentlich nicht viel zu tun. Der Text beginnt mit der Schilderung der Atmosphäre und macht eine kleine Rückblende, wie es überhaupt zu der Situation kommen konnte, in welcher der Text selbst sich abspielt. Ich bin hier nur kurz einmal bei „Cocktail um Cocktail“ steckengeblieben: Dem Klischee nach trinkt in meinem Kopf eine Frau, die nach Feierabend heben geht, einen Cocktail. Bier wäre für die Frau vielleicht auch möglich. Oder irgendein Weinmischgetränk. Aber ein Mann? Ein Mann trinkt – dem Klischee nach wohlgemerkt! – Bier. Also ändern wir das Getränk.
Dass ich auch Namen und Pronomen ändern musste, dürfte klar sein.
Den Rest der Eingangsszene konnte ich lassen, wie er war. Ich habe nur kurz überlegt, aus „Sie kannte die Gegend nicht, hatte längst aufgehört, sich die Straßennamen zu merken“ ein „Er starrte angestrengt aus dem Fenster. Goethestraße, Schillerplatz, Langer Weg … die Straßennamen zogen an ihm vorbei“ zu machen. Weil laut Klischee muss ein Mann einen Orientierungssinn haben und wissen, wo er ist. Männer gehen nicht verloren und fragen nicht nach dem Weg. Aber es erschien mir dann doch etwas übertrieben, also blieb die Stelle, wie sie war.
Ändern musste ich aber das Aussteigen aus dem Taxi. Einerseits muss der Gentleman natürlich bezahlen. Der ursprüngliche Text begann hier bereits Tempo aufzunehmen:
„Ihr Begleiter hielt sich nicht lange mit dem Zahlen auf – vermutlich gab er viel zu viel Trinkgeld.“
Wenn ich dieses schnelle Tempo, das Gehetztsein der Figuren, hier aufrecht erhalten will, muss Lorenz leider tief in die Tasche greifen – und da ich in seiner Perspektive bleibe, muss ich das irgendwie begründen und nachvollziehbar machen:
„Er drückte dem Fahrer ein Bündel Scheine in die Hand. Viel zu viel, doch er wollte nicht knausern, wollte nicht innehalten, um zu zählen.“
Dass Lorenz seiner Begleitung aus dem Wagen hilft, ist dann natürlich selbstverständlich. Bei Laura hingegen hat mich das nicht interessiert. Dass ihr herausgeholfen wird, kann ein Leser sich dazudenken, es ist nicht wichtig. Für die Charakterisierung von Lorenz schon. Würde die Frau Lorenz aus dem Wagen helfen, hätten wir ein völlig anderes, unpassendes Bild.
Auch die Details werden hier wichtig. Das beginnt bei der Gänsehaut: Bei Laura richten sich Härchen auf, bei Lorenz Haare.
Laura kann ein „Wohin?“ als Frage hauchen, Lorenz nicht. Mir fiel hier für Lorenz auch keine andere Umschreibung ein: Ein „Wohin?“ in fragendem Tonfall wirkt ungeduldig, vielleicht sogar grob und kann die Romantik und das sexuelle Knistern der Szene zerstören. Daher sieht Lorenz die Frau nur fragend an, während sie die Antwort haucht.
Der Fahrstuhl
Bis hierhin war es noch einfach, aber die Choreographie im Fahrstuhl funktionierte nach einem Geschlechterwechsel überhaupt nicht mehr.
Bei Laura: „Als die Lifttür sich schloss, umfing er sie von hinten.“
Wenn man mit Klischees in einer Kurzgeschichte arbeitet, ist der Mann natürlich größer als die Frau und kann sie problemlos von hinten umschlingen und seine Hände überallhin wandern lassen. Aber umgekehrt? Nein.
Damit Lorenz zum „Opfer“ seiner Begleitung werden kann, muss die sich erst einmal umdrehen. Ganz davon abgesehen, dass Lorenz auch nicht von der guten Dame hochgehoben werden kann. Damit klappt auch die Szene bis zum Erreichen der Tür nicht mehr.
Laura hängt quasi direkt an ihrem Kerl, während der aufschließt: „schließlich stieß er sie mit dem Rücken gegen eine Tür, der Türknauf drückte unangenehm gegen ihre Hüfte. Er fluchte verhalten, während ihre Finger wie von alleine an den Knöpfen an seinem Hemdkragen zerrten.“
Lorenz hingegen muss pausieren: „Widerwillig ließ Lorenz von ihr ab, sah zu, wie sie nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche suchte. Als sie ihn fand und ins Schloss schob, schob er seine Hand unter ihre Bluse. “ Grad so beim Aufschließen, für meinen Geschmack erzählerisch schlecht hintangestellt, fängt er noch an, ihr an die Wäsche zu gehen. Elegant find ich das nicht – würde ich mich nicht sklavisch an meinen Ausgangstext halten wollen, hätte ich den Beginn des Ausziehens lieber nach drinnen verlegt.
Die Wohnung
Mal davon abgesehen, wie sie durch die Wohnung kommen – ich denke, die Ausführungen zur „Choreographie“ oben reichen da schon – hat mir die Wohnung selbst auch Kopfzerbrechen bereitet.
Es ist eine Sache, wenn Laura in der Männerwohnung schmutziges Geschirr findet. Eine ganz andere, wenn Lorenz dasselbe in einer Frauenwohnung tut. Natürlich ist mir klar, dass es auch unter Männern Exemplare gibt, die Ordnung halten können, und Frauen, die den Haushalt mal schleifen lassen. Das ist alles ganz normal, aber nicht in der Welt der Klischees.
Die Schubladen in unseren Köpfen sortieren eine Frau mit verdreckter Küche anders ein als einen Mann.
Selbiges Problem habe ich auch mit dem Bruce-Springsteen-Poster. Schon bei Männern ist ein solches Poster heutzutage vielleicht fragwürdig, aber bei Frauen?
Oder wenn wir etwas weiter im Text schauen: Lauras Eroberung hat einen Sturmtruppler auf dem Regal stehen. Das macht ihn zu einem Star Wars Fan, vielleicht einem kleinen Nerd, nicht weiter schlimm. Solche Nerds kennen wir heute zur Genüge, man denke etwa an Big Bang Theory oder Walden Schmitt. Die dürfen auch ruhig mal ein Mädel abbekommen.
Aber ein Mädel, das einen Sturmtruppler hat? Grad bei Big Bang Theory macht man sich die größte Mühe, in jeder Folge wieder zu zeigen, dass Frauen für die Hobbys der männlichen Nerds einfach überhaupt kein Verständnis haben können.
Wenn Lorenz‘ Eroberung also einen Sturmtruppler hat, widerspricht sie dem Klischee stark.
Ich habe mich aber, gerade weil es ein völlig anderes Bild zeichnet, dazu entschlossen, diese Attribute nicht zu ändern.
Das Bett
Wie die beiden aufs Bett kommen, ist auch nicht so einfach. Wer die Texte gelesen hat, kennt die Pointe: Es ist essentiell, dass der Protagonist dabei oben ist.
Lauras Begleiter, ein starker Kerl, trägt bzw. schiebt sie durch die Wohnung. Als sie das Bett erreichen, ist es Laura, die zuerst auf dem Bett landet – das muss sich ändern, also muss Laura im Bett bewusst die Position auf ihm einnehmen. Das kann einiges über sie aussagen. Man könnte etwa herauslesen, dass ihr die Position lieber ist, dass sie gerne die Kontrolle behält, dass diese Rollenverteilung nicht dem 0815-Schema entspricht, schließlich wird das im Text noch mit einem „Verwundert blickte er zu ihr hoch, grinsend, als sie sich auf ihn hockte“ kommentiert.
Die Situation bei Lorenz sieht anders aus: Er ist nicht ortskundig, also kann er seine Begleiterin nicht wirklich durch die Wohnung bugsieren, sondern muss sich von der guten Frau mitschleifen lassen. Er erreicht dadurch als Zweiter das Bett, landet von selbst oben. Es gibt keine bewusste Entscheidung zu dieser Rollenverteilung, stattdessen scheint es sich zufällig so zu ereignen und die Möglichkeiten zur Charakterisierung der beiden Beteiligten durch die Sexszene schwinden dahin.
Auch die Pointe will dann nicht mehr so recht klappen: Da ist eine Ratte, Laura als Frau schreit natürlich und der Mann wundert sich.
Aber Lorenz? Ein Mann, der eine Ratte sieht und schreit? Dem Klischee nach unpassend. Was kann er großartig tun? Zusammenzucken, sich beherrschen? Innehalten, erstarren?
Ich bin hier unzufrieden, weiß aber auch nicht, wie ich das anders lösen könnte. Retten lässt es sich nur noch mit: „Jetzt schon?“ als enttäuschte Reaktion seiner Begleiterin, um eventuelles männliches Frühstarten anzudeuten und vielleicht einen armseligen Lacher zu kassieren.
Fazit
Ein Geschlechterwechsel ist alles andere als trivial: Wer es genau nimmt, muss bis ins kleinste Details alles anders durchdenken. Dafür muss man nicht einmal mit Klischees spielen, die dann nicht mehr passen: Auch völlig belanglose Sachen werden schwierig. Körperbeschreibungen etwa (Haare/Härchen), aber auch Wohnungseinrichtungen (Poster an den Wänden, aufgeräumt/unaufgeräumt, Fanartikel und Dekoobjekte …) sagen viel über Charaktere aus und können unpassend wirken, wenn der Charakter plötzlich ein anderes Geschlecht hat.
Grad bei Liebesgeschichten wird das Dilemma noch größer: In unserer Kultur haben wir genaue Vorstellungen, wie die Rollen verteilt sein müssen. Wer zahlt die Rechnung? Wer hilft wem aus dem Wagen, wer leiht wem die Jacke, wenn es kalt ist? Wer bringt wen nach Hause, weil es spät nachts allein viel zu gefährlich auf den Straßen ist? Wer macht wem den Antrag?
Ich habe Twilight nicht gelesen und habe es auch nicht vor. Aber falls Stephenie Meyer sich das auch bis ins kleinste Detail für ein ganzes Buch angetan hat, dann hat sie meinen Respekt. Am Ende macht ein solcher literarischer Geschlechterwechsel mehr Kopfzerbrechen, als gleich einen neuen Text zu schreiben …
Mir ist diese Twilight-Neufassung völlig entgangen, aber jetzt hast du mich neugierig gemacht. Denn auch wenn „Zu ihr?“ nicht schlecht ist, kommt der Text in seinem Spiel mit den Erwartungen des Lesers nicht ans Original heran. Als Charakter wirken Lorenz und seine Partnerin durch die Details eigenwillig, was als Auftakt für eine längere Geschichte spannend wäre, als Kurzversion aber irgendwie irritierend wirkt, weil wir alles Fehlende automatisch mit Stereotypen ergänzen. Da passen dann weder Lorenz‘ passive Art noch das Bruce-Springsteen-Poster.
Und gerade das dürfte bei Twilight ein Riesenproblem sein, denn dort sind die Klischees zwar nicht durch die Textlänge motiviert, aber durch die Figuren, denn der Vampir steckt ja noch in den Rollenmustern seiner Entstehungszeit. Was bei einem Jungen als Gentleman-Allüre charmant wirken kann, dürfte bei einem weiblichen Vampir aber völlig quer laufen, da der Vampir ja qua Art der dominantere Part sein müsste. Aber es bestätigt meinen Eindruck, dass Stephenie Meyer als Autorin deutlich mehr drauf hat, als Twilight auf den ersten Blick vermuten lässt. Denn man mag von der süsslichen Story halten, was man will, aber die Frau beherrscht ihr Handwerk wirklich. Mal schauen, ob es das Buch bei uns in der Bücherei gibt, da muss ich zumindest reinschauen.
LG, Julia
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Zwischen „Zu ihr?“ und „Zu ihm?“ liegen in der Tat Welten.
Grad eine Kurzgeschichte muss oft mit Klischees arbeiten, weil sie nicht den Raum für lange Charakterstudien und Figurenentwicklungen hat. Das ist mir umso mehr bewusst geworden, als ich an dieses Umschreiben gegangen bin.
Lorenz etwa ist als Mann in einer solchen Situation viel zu passiv. Man fragt sich fast sofot, was da los ist. Ist er schüchtern? Traut er sich nicht? Was hält ihn zurück? Aber wenn man sich an das enge Korsett des ursprünglichen Textes halten will, kann man hier kaum ausbrechen. Jedes bisschen, das Lorenz selbstständiger und aktiver wird, entfernt ihn weiter von seiner Vorlage Laura. Am Ende hätte man, falls man Lorenz und seiner Begleitung ihr eigenes Vorgehen zugestehen und das Umfeld – Taxi, Wohnung, Fahrstuhl, Bett etc. – dementsprechend umgestalten würde, einen völlig anderen Text. Zwei Texte, die zufällig eine ähnliche Handlung haben.
Leider kenne ich weder das ursprüngliche Twilight, noch diesen neuen Band und kann nicht beurteilen, wie Meyer vorgegangen ist. Es wäre interessant, zu sehen, wie nah ihre Schilderung im neuen Band noch an den alten Ereignissen ist. Ausgehend von meinem Selbstversuch denke ich, dass die Handlung sich schon nach den ersten Seiten stark auseinander entwickeln muss, damit die Protagonisten nicht völlig hölzern und unbeholfen, sogar unpassend und fremdartig wirken. Man muss ja wirklich bis ins kleinste Detail alles neu durchdenken, kaum eine Beschreibung oder Handlung kann bleiben, wie sie ist. (Mein obiger Text ist ja gerade dadurch nicht so gelungen, weil ich dicht am Ausgangstext bleiben wollte.)
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