
Titel: Bärenbrut
Autorin: Nora Bendzko
Verlag: Selbstverlag
Genre: Märchenadaption / Kurzgeschichte
Altersempfehlung: 16+
Seiten: ca. 60 (NA)
Format: eBook only
Coverdesign by: Emanuel Santer
ASIN: B0742L5CKM
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„Bärenbrut“ ist das Prequel zum DPP-nominierten, allerersten von Nora Bendzko verfassten Galgenmärchen „Wolfssucht“ und aufgrund der Länge als längere Kurzgeschichte einzustufen. Und nachdem die bisherigen Adaptionen sich mit sehr bekannten Märchen beschäftigten (Rotkäppchen und Rumpelstilzchen), ist „Bärenbrut“ die Adaption des Märchens „Bärenhäuter“ und das kannte ich vorher überhaupt nicht.
Entsprechend unbedarft und ohne Vorwissen bin ich an die Lektüre herangetreten und habe mir erst nachträglich das Originalmärchen zu Gemüte geführt. Ob das die richtige Vorgehensweise ist oder es besser umgekehrt wäre… wer weiß :D .
Cover:
Die Cover der Galgenmärchen sind irgendwie immer wieder überirdisch schön, so auch dieses hier. Obwohl vollkommen andere Farben und Motive als in „Wolfssucht“ verwendet wurden, sieht man, dass sie zusammengehören. Irgendwie.
Statt rötlicher Locken gibt es hier eine Art Schleier oder Spinngewebe am unteren Rand und das sieht einfach nur toll aus. Dazu der riesenhafte Bär als verschwommene Silhouette inmitten eines unwirklich anmutenden Waldes und die Menschengestalt.
Und wenn man es gelesen hat, passt das so, so gut auf die Geschichte, dass es fast schon unheimlich ist. Und dazu … habe ich schon erwähnt, wie ästhetisch ich das Cover finde? Jedes Cover von Emanuel Santer ist schöner als das vorherige.
Inhalt:
Es ist… interessant. Im Gegensatz zu den anderen Märchen aus der Reihe kommen hier explizit christliche Motive durch – wie im Original spielt auch hier eine gewisse Gestalt eine Rolle, die in der christlichen Folklore eine große, antagonistische Rolle spielt.
Dadurch rückt das Thema Christentum und Kirche ganz subtil in den Vordergrund. Einerseits gibt es diesen sehr ambivalenten Widersacher, auf der anderen Seite gibt es jedoch auch einen Pater in dieser Geschichte, der ziemlich viel Dreck am Stecken hat und alles andere als eine positive Identifikationsfigur ist. Ähnlich wie es schon in „Wolfssucht“ sehr ambivalent war, durch die Vermischung zwischen christlichen und heidnischen Riten und durch das ambivalente Verhalten der Menschen.
Für eine inhaltliche Zusammenfassung zitiere ich auch hier wieder den Klappentext, ich kriege es nie auch nur annähernd so gut hin wie Nora:
Nie wird Thorben den Anblick seines toten Vaters vergessen: zerfleischt von einem Bären. —
Nachdem er den Schrecken des Krieges nur knapp entronnen ist, baut er sich als Jäger ein neues Leben auf. Er heiratet, bekommt einen Sohn. Doch die Menschen in seinem Dorf sind ihm gegenüber misstrauisch. Ein Fluch soll auf seiner Familie lasten. Als seine lang verschollene Mutter wieder auftaucht und ihr der Tod ihres Mannes beigebracht werden muss, brodeln die Gerüchte von damals wieder. Thorbens Vater sei nicht von einem Bären getötet worden, heißt es. Ein Mensch in Bärenhaut habe die Bluttat begangen … ein Gestaltwandler. Was ihn auch getötet hat, es lauert noch immer im Dorf – und Thorben muss sich ihm stellen. Wenn nicht für seinen Vater, dann um sich und seine Liebsten zu schützen.
Generell kann ich diese Geschichte nur schwer losgelöst von den anderen lesen – ja, sie funktioniert auch vollkommen eigenständig. Das will ich damit nicht sagen. Man kann sie wunderbar lesen, ohne die anderen Galgenmärchen zu kennen. Aber kennt man sie, drängen sich all die intertextuellen Gedanken zwangsläufig auf. Wir haben hier nämlich eine Welt, von der ich postulieren kann:
– Dreißigjähriger Krieg
– Es gibt in dieser Welt reale Geister (die Alene aus „Kindsräuber“ sehen kann)
– Es gibt in dieser Welt Sam Morgenstern ;-)
Und damit wird mit jeder Geschichte das Gesamtpaket reicher – weil sie Aspekte der jeweils anderen Geschichten in ein neues Licht setzt.
In sich ist die Geschichte wunderbar logisch – selbst einige Stellen, die ich als etwas merkwürdig empfand (und wo ich konkret an der Stelle einzelne Handlungen einer Figur nicht nachvollziehen konnte), haben sich im Nachhinein als schlüssig aufgelöst.
Nora Bendzko spielt gekonnt mit bekannten Motiven und gängigen Mythen und baut daraus auch hier wieder eine Geschichte von geradezu schmerzlicher Konsequenz.
Sprache:
Hier kommt etwas, für das Nora kein bisschen was kann und woran viel mehr mein alberner Freund schuld ist, aber … die erste Szene ist so unglaublich dramatisch, unglaublich tragisch und dann sagt Thorben „Herr Vater“. Und ich musste lachen. Weil für mich diese Anrede ausschließlich in ironischer Form funktioniert. Auch wenn sie in diesem historischen Setting völlig legitim ist.
Ich gebe dafür keine Abzüge, weil die Autorin wie gesagt nichts dafür kann, dass bei mir diese Formulierung automatisch einen kleinen Lachanfall ausgelöst hat, aber dadurch musste ich das Buch erst einmal weglegen und mich ein wenig sammeln :D .
Generell mag ich sehr, wie hier mit Sprache gespielt wird. Das fängt bei den Namen an – ich würde euch empfehlen, NACH der Lektüre des Buches die Namen Thorben und Elfriede mal bei Google einzugeben und „Namensbedeutung“ dazuzuschreiben, dann wisst ihr, was ich meine. Aber bitte nicht vorher.
Und auch hier findet sich die Konstruktion, die ich überall sonst als Fehler monieren würde und die nur bei historischen Stoffen wie den „Galgenmärchen“ – oder gerade da – wunderbar passen. „Wie wenn“ und „als wenn“ illustrieren wunderbar, wie die Menschen in früheren Zeiten gesprochen und gedacht haben.
Fand ich alles sehr stimmig.
Fazit:
Ich gebe zu, ich war anfangs ziemlich skeptisch. Eine „Kurzgeschichte“ mit sechzig Seiten ist ja durchaus ordentlich und vom Ausgangsmärchen habe ich noch nie etwas gehört. Und dann der Lachflash, als ich direkt am Anfang „Herr Vater“ gelesen habe und die ganze Dramastimmung für mich erstmal ruiniert war.
Aber dann las ich weiter und staunte mal wieder über das tolle Konstrukt, das Nora Bendzko auf die Beine gestellt hat. Eine wunderbar symboldichte Geschichte, die trotz der geringen Länge wunderbar funktioniert und einen Sog entwickelt, dem ich mich nicht entziehen konnte.
Das Dorfleben ist gut und spannend geschildert und ich habe immer wieder genickt, wenn etwas besonders authentisch beschrieben war.
Insgesamt eine tolle Märchenadaption, die sich gut in die bestehende Welt einfügt und mich neugierig darauf macht, wie es mit den Galgenmärchen weitergeht.
Disclaimer: Ich bedanke mich bei der Autorin für das Rezensionsexemplar!